Eine junge Frau sitzt draußen auf einem Anleger aus Stein und schaut aufs Meer.

Wie ein Mädchen zu sich selbst und in ein glückliches Leben fand

Stefanie blickt nach 20 Jahren auf ihre Zeit in der Wohngruppe „Die Schwalben“ zurück
Eine junge Frau sitzt draußen auf einem Anleger aus Stein und schaut aufs Meer.

„Ich komme mit meiner Tochter nicht mehr klar. Ich will nicht, dass sie wieder mit nach Hause kommt.“ Es ist genau 21 Jahre her, dass Stefanies (Name geändert) Mutter, diesen folgenschweren Satz sagte. Stefanie war damals 14 Jahre alt und stand mit ihrer Mutter im Büro der Wohngruppe „Die Schwalben“ in Moorwarfen. Ihre Mutter hatte ihr zuvor erzählt, sie bringe sie für zwei Wochen in eine Jugendherberge, weil sie selbst ins Krankenhaus müsse. Als die Jugendliche dann hörte, was sie wirklich vorhatte, war das ein Schock.

Stefanie wuchs bis dahin mit ihrer Zwillingsschwester bei ihrer Mutter auf. Kinderschutzbund, Jugendamt, Polizei – mehrere Institutionen wussten seit vielen Jahren, dass die Lage in der Familie prekär war. Aber die Hilfesysteme versagten. Es habe keine rechtliche Handhabe gegeben, die Mädchen aus der Familie zu nehmen. Die Mutter hatte das Sorgerecht.

„Wir wurden unser Leben lang zum Schweigen gezwungen. Wie kann man dann erwarten, dass ein Kind die Wahrheit sagt, wenn es im Beisein der Eltern gefragt wird, ob alles in Ordnung ist“, fragt Stefanie. Sie ist zu Gast beim Jugendhilfeverbund der GPS. Zwei Jahrzehnte nach ihrem Einzug bei den Schwalben berichtet sie den Pädagogen, wie sie ihre Zeit in der Wohngruppe damals erlebt hat. Tanja Kiefer steht ihr dabei zur Seite. Sie ist heute die Leiterin des Jugendhilfeverbundes der GPS. Damals war sie Betreuerin bei den Schwalben und wurde zu einer wichtigen Bezugsperson für Stefanie. Doch der Weg dahin war steinig.

Was genau Stefanie damals in ihrer Familie erleben musste, erzählt sie nicht. Nur so viel: „Zuhause wusste ich, wenn ich etwas mache, was meiner Mutter nicht gefällt, bekomme ich Reaktion X. Bei den Schwalben wurde ich nicht mal angeschrien“, sagt sie. Das kannte sie nicht. Und damit konnte sie lange nicht umgehen. „Ich hatte zu niemandem Vertrauen und wollte mit niemandem etwas zu tun haben.“

Bevor Stefanie in die Wohngruppe kam, war ihr Lebensumfeld sehr klein. Sie ging zwar zur Schule, ansonsten hatte sie aber nichts. Keine Freizeitaktivitäten, keine Freunde – nur ihr Zuhause. Dort erfuhr sie keinerlei Liebe. Das Verhältnis zur Mutter war immer von Angst geprägt. „Sie hat mich noch nie in den Arm genommen oder mir gesagt, dass sie mich lieb hat“, erzählt die mittlerweile 34-jährige Frau. Als Mädchen sei sie immer sehr verwahrlost herumgelaufen, trug unmoderne Kleidung. „In der Schule wurde ich immer gemobbt.“ Deshalb hatte sie auch in Moorwarfen zunächst Angst vor den anderen Jugendlichen.

Mit ihrem Einzug bei den Schwalben hatte ihre Mutter sie nicht nur abgeschoben, sondern auch von ihrer geliebten Zwillingsschwester getrennt, indem sie den Kontakt zwischen den Mädchen verbot. Stefanies Schwester war nach einem Suizidversuch bereits kurz zuvor in einer anderen Wohngruppe untergebracht worden. „Das war das Schlimmste für mich. Ich habe Zuhause alles nur mit meiner Schwester durchgestanden“, sagt sie. Heute weiß sie: Wenn die Mädchen nicht getrennt untergebracht worden wären, hätten sie niemals einen anderen Menschen an sich herangelassen. Niemand hätte ihnen helfen können. Die Betreuer*innen erlaubten den Schwestern aber trotz des Verbots der Mutter regelmäßige Treffen.

Es hat lange gedauert, bis Stefanie sich auf das Leben bei den Schwalben einlassen konnte.  „Wir haben einfach ständig aneinander vorbeigeredet“, sagt Tanja Kiefer. Wenn die Pädagogin Stefanie beispielsweise verbot, während einer Freizeit zusammen mit zwei anderen Mädchen in einem Bett zu schlafen, kam bei der 14-Jährigen an: „Sie will nicht, dass ich Freunde habe“. In Wirklichkeit wollte die Erzieherin Stefanie schützen. Sie kannte die anderen Mädchen gut und wusste, dass die Nacht in einem Bett nicht gut gehen würde. „Wir haben wirklich lange keine Basis für Kommunikation gefunden“, sagt Tanja Kiefer.

Das Leben in der Wohngruppe war für Stefanie zunächst die pure Überforderung. Plötzlich gab es Regeln, und zwar viele. „Ich musste jeden Tag duschen. Zuhause durfte ich das nicht. Es gab dreimal am Tag etwas zu essen und feste Bettzeiten – das war für mich sehr herausfordernd“, erzählt sie. Nie zuvor hatte sie Shampoo, eine Bürste, bekam regelmäßig Bekleidungs- oder gar Taschengeld. Bis sie sich auf all das einlassen und zulassen konnte, dass es ihr bei den Schwalben gut geht, vergingen ganze zwei Jahre. Mit dem Wissen von heute sagt sie: „Die Zeit bei den Schwalben war die beste Zeit in meinem Leben. Ich hätte mir kein besseres Zuhause vorstellen können.“

In der Dokumentation von damals ist immer wieder zu lesen, dass Stefanie sich nicht an Regeln halten will. Zum Beispiel dann, wenn sie die Musik so laut aufdrehte, dass die Wände wackelten. „Ich konnte nicht zulassen, dass alles in Ordnung oder sogar schön war. Ich brauchte dann Abstand und den habe ich durch solche Aktionen gewonnen“, erklärt sie ihr Verhalten.

Irgendwann kam ihr Vater ins Spiel. Er fing sie vor der Schule ab. Beeinflusste sie. Und wieder war es Stefanie verboten, jemandem davon zu erzählen. Sie verletzte sich eine Zeit lang auch selbst. „Einfach nur, um irgendetwas zu spüren“, sagt sie. Zweimal verschwand sie aus der Wohngruppe und lebte eine Weile auf der Straße. Das zweite Mal war zu viel für Tanja Kiefer. Sie brachte Stefanie zu ihrer Mutter: zwei Wochen Zwangsurlaub.

„In den ersten zwei Jahren hat es in meinem Kopf ununterbrochen gearbeitet“, erklärt Stefanie. Manchmal hätte sie gerne geredet, endlich etwas Ballast abgeworfen. Doch wenn sie mit einem Betreuer zusammensaß, sagte sie nichts. „Ich kam einfach nicht über diese innere Schwelle“.

Die zwei Wochen bei ihrer Mutter brachten die Wende. Tanja Kiefer fand schließlich einen Zugang zu Stefanie. „Reden konnten wir nicht. Also fing ich an, ihr Briefe zu schreiben und unter ihrer Zimmertür hindurchzuschieben“, sagt sie. Bei dem Teenager kam an: „Sie interessiert sich wirklich für mich.“ So bahnte sich langsam ein inniges Verhältnis zwischen den beiden an, das bis heute hält.

Stefanie konnte sich nach und nach auf das Leben bei den Schwalben einlassen. „Als ich mich dort sicher gefühlt habe, war meine Mutter kein Thema mehr für mich“, sagt sie. Sie entwickelte sich in der Wohngruppe vom Mobbingopfer zur Gruppensprecherin. Sie verstand sich mit den anderen Bewohner*innen, konnte sich gut in sie hineinversetzen. „Dort waren wir alle gleich“, erklärt sie.

Nach vier Jahren, musste Stefanie bei den Schwalben ausziehen. Sie war volljährig. Und der Start in ein selbstständiges Leben „war erst einmal eine Katastrophe“. Die junge Frau war sehr lange krankgeschrieben, machte Therapien. Auch in dieser Zeit gab es aber Menschen, die sich um sie gekümmert haben. Irgendwann nahm sich Stefanie vor, ihren Führerschein zu machen. Sie schaffte ihn. Das gab ihr neuen Mut und sie ergatterte sich einen Praktikumsplatz. Aus diesem Praktikum schaffte sie es in eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Bis heute arbeitet sie sehr erfolgreich in ihrem Beruf, leitet inzwischen sogar ein Büro. Sie ist glücklich verheiratet und sagt mit einem stolzen Lächeln: „Ich habe es geschafft.“

Es habe Zeiten gegeben, in denen sie am liebsten gestorben wäre. „Heute bin ich dankbar, auf dieser Welt zu sein. Ich liebe das Leben.“ Diese Entwicklung sei möglich gewesen, weil sie bei den Schwalben ein Zuhause gefunden hat, in dem sie aufgefangen wurde. Weil es dort Menschen gab, die sie nicht aufgegeben haben. Sie haben ihr geholfen, zu sich selbst zu finden und etwas aus ihrem Leben zu machen. „Ich hatte nie das Gefühl, dass die Betreuer dort einfach nur einen Job machen. Sie waren meine Familie und ich hätte mir keine bessere vorstellen können.“

Tanja Kiefer hat Stefanie in ihrer Zeit bei den Schwalben einmal einen Stein geschenkt. Er sollte sie selbst symbolisieren. Stefanie hat diesen Stein nie weggeschmissen.

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