Als Sebastian im Alter von 14 Jahren die Diagnose „Autismus“ bekam, hatte er bereits einen steinigen Weg hinter sich. Schon als Grundschüler konnte er sich nicht in Lehrkräfte hineinversetzen, nahm sie nicht ernst, konnte ihre Reaktionen nicht verstehen. „Wenn sie sagten, dass ich mich hinsetzen soll, habe ich das gemacht – aber nicht auf den Stuhl, sondern auf den Tisch“, beschreibt er eine von vielen Situationen, in denen er durch sein Verhalten auffiel und unbewusst provozierte. Wurden die Lehrer wütend, konnte er dieses Gefühl nur schwer nachvollziehen, reagierte stets impulsiv und oft entgegen der Norm.
Sebastian besuchte eine Förderschule für emotionale und sozial Entwicklung. Aber: „Niemand hat die Anzeichen richtig gedeutet.“ Dabei waren sie immer da: Der Junge nahm Dinge anders war, traf Entscheidungen nach Gründen der Logik, nie aus einer Emotion heraus. Die Gefühle von anderen konnte er nicht lesen, verstand nicht, wann jemand traurig oder wütend war. „Ich habe mir das vermutlich mit Hilfe von Fernsehserien beigebracht“, erzählt er. Er verknüpfte die Mimik der Schauspieler mit der Gefühlslage, die sie ausdrückten, speicherte das Verhalten ab und übertrug es auf eigene Interaktionen.
Sebastian lernte, sozial zu interagieren, zeigte nicht die gängigsten Anzeichen – und erhielt somit weder die richtige Diagnose noch die entsprechende Unterstützung. Als er in der dritten Klasse war, wurde er aus dem häuslichen Umfeld genommen. Der Grund der auffälligen Verhaltensweisen wurde im Elternhaus gesehen. Er zog in eine Wohngruppe, kam auch dort nicht zurecht, flog wieder raus. Meist lag es an seiner Impulsivität. Er griff andere an – erst körperlich, später zunehmend verbal. Er machte andere nieder, stellte sich über sie. Dass die Gründe für sein Verhalten in einer Autismus-Spektrum-Störung lagen, erkannte niemand. Dabei rastete Sebastian immer dann aus, wenn alles zu viel für ihn wurde. „Overload“ nennt sich dieser Zustand – ein zu viel an Reizen, eine Menge, die den Menschen überfordert. Im Kopf wird alles neblig, schwarz, wie im Tunnel. Betroffene machen dann entweder dicht, gehen in den „Shutdown“ – oder lassen unkontrolliert in einem so genannten „Meltdown“ alles heraus.
Jahre später gerät Sebastian noch immer in Overloads. Aber er hat Techniken entwickelt, damit umzugehen. Im Kopf wird es immer noch schwarz – so auch während des Gesprächs über ihn und sein Leben. Was er sagt, vergisst er sofort wieder. Und trotzdem antwortet er überlegt, reflektiert, lässt sich kaum anmerken, wie sehr er kämpft.
Warum er in solch einer Situation so sehr kämpfen muss, wurde ihm mit 14 Jahren klar. Eine Betreuerin erkannte in seinem Verhalten Parallelen zu einem ihr bekannten Autisten. Sebastian bekam endlich eine Diagnose, brauchte aber noch einige Zeit, um sich damit auseinandersetzen zu können. Erst, als er 16 Jahre alt war, recherchierte er im Internet, fand Videos, realistische Darstellungen, Erklärungen, warum er ist, wie er ist.
Mittlerweile lebt er allein, kommt damit gut klar. In der Schule läuft es besser, er hat Freunde, verabredet sich, geht auch schon mal feiern. Einmal in der Woche geht er zur Autismus-Therapie, reflektiert Situationen, die ihm unangenehm waren, ihn überfordert haben oder in denen er die Reaktionen seines Gegenübers nicht verstanden hat. Das passiert vor allem dann, wenn Menschen ironisch oder sarkastisch sind. „Ich kann Emotionen sowieso nur schwer einschätzen, wie soll mir das bei Ironie gelingen?“
Er wünscht sich mehr Rücksicht aber auch eine bessere Aufklärung in Schlüsselpositionen. „Lehrkräfte sollten die Diagnose-Kriterien kennen“, sagt er. Auch die, die auf den ersten Blick nicht als typisch erscheinen. „Nicht alle Autisten sind klavierspielende Wunderkinder“, sagt Sebastian. Und dann gibt er doch zu, dass er selbst seit zwei Jahren Klavier spielt. Er hat es sich selbst beigebracht – das Spielen und auch das Komponieren.