Verlangen, Lust und Leidenschaft. Drei Worte, die ein Kribbeln auslösen können, deren Erfüllung glücklich macht – wenn sie erlebt werden dürfen. Für viele Menschen mit Behinderung sind diese Gefühle stattdessen mit Scham verbunden. Ihre Sexualität wird mit einem Tabu belegt, ausgelebt wird sie im Geheimen – oder gar nicht. „Wir müssen uns bewusstmachen, dass diesen Menschen nicht nur ein gutes Gefühl verwehrt wird, sondern ein Menschenrecht“, sagt Sandra Petermann. Mit ihrem Fachdienst Sexualpädagogik möchte sie das ändern. Sie möchte nicht nur Klient*innen darüber aufklären, welche Möglichkeiten und Rechte sie haben. Sie möchte auch Mitarbeitende für den richtigen Umgang mit Bedürfnissen, Wünschen und Neigungen sensibilisieren.
Sandra Petermann hat 20 Jahre im Heilpädagogischen Wohnverbund gearbeitet, leitet mittlerweile die Wohnstätte Schellingstraße in Wilhelmshaven. „Ich hatte mit vielen Kindern und Jugendlichen zu tun, die nicht aufgeklärt waren“, sagt sie. Vor allem bei Kindern mit Behinderungen sei Sexualität noch viel zu oft etwas, über das Eltern und Fachkräfte nicht mit ihnen sprechen. „Dadurch sind die Gefühle und die Lust nicht weg. Die Jugendlichen können sie aber nicht zuordnen oder einschätzen, wissen nicht, wohin mit sich und dem, was sie gerade erleben.“ Unzufriedenheit, Druck oder Aggressivität können die Folge sein. „Wir müssen den Jugendlichen deutlich machen, dass ihre Gefühle und Bedürfnisse etwas Normales sind und ihnen erklären, wie sie damit umgehen können“, sagt Sandra Petermann. Denn: „Aufgeklärte junge Menschen mit einer positiven, sexualfreundlichen Umgebung können sich zu selbstsicheren und selbstbestimmten Erwachsenen entwickeln.“
Für sie ist damit nicht nur die klassische Aufklärung gemeint. „Wir müssen erklären, wie Sexualität ausgelebt werden kann – in einer Partnerschaft aber auch alleine.“ Dann erzählt sie von einem jungen Mann mit einer geistigen Behinderung, der unruhig und aggressiv war. Niemand hatte mit ihm über seine Sexualität gesprochen, was für Gefühle und Bedürfnisse sich in ihm regten, verstand er nicht. Sandra Petermann erklärte ihm, was mit seinem Körper passierte – und schickte ihn schließlich mit einer Packung Taschentücher auf sein Zimmer. „Der Druck, den er bis dahin verspürt hatte, war weg“, erzählt sie. Er war ruhiger, nicht mehr aggressiv, konnte sich und seine Gefühle einordnen und verstehen. „Wir dürfen Menschen mit Behinderungen diese Bedürfnisse nicht absprechen. Im Gegenteil: Es ist etwas Lustvolles, Positives, das Lebensenergie spendet. Wir müssen unsere Klient*innen dabei unterstützten, sie ausleben zu können, um ein erfülltes Leben zu führen.“
Für Sandra Petermann ist die Sexualpädagogik ein Herzensthema. Rund anderthalb Jahre lang hat sie sich berufsbegleitend weitergebildet. Sechseinhalb Stunden in der Woche arbeitet sie nun für den Fachdienst. Alle Einrichtungen der GPS können ihre Unterstützung anfordern. Sie hilft in konkreten Fällen, gibt aber auch Schulungen für Mitarbeitende. „Unsere Fachdienste werden oft erst dann angefordert, wenn die Kolleg*innen schon über ihre Grenzen gegangen sind und nicht mehr können. Wir sind dann wie eine Art Feuerlöscher“, sagt Sandra Petermann. Sie wünscht sich, dass öfter präventiv gehandelt wird, dass über Sexualität und den Umgang damit aufgeklärt wird, bevor Probleme entstehen. „Wir wissen, dass unsere Bewohner*innen Sex haben. Man spricht nur nicht darüber“, sagt Sandra Petermann. „Oft wird sich nur versichert, dass verhütet wird. Das war es dann aber auch schon.“
Dabei haben Menschen mit Behinderungen die gleichen Bedürfnisse, Sorgen und Nöte. „Es ist die totale Normalität. Sie müssen wissen, dass sie es dürfen und die Unterstützung bekommen, die sie brauchen, um ihre Sexualität ausleben zu können.“ Für Sandra Petermann gehört der Besuch in einem Erotikfachgeschäft genauso dazu, wie das Bereitstellen von Hilfsmitteln, damit körperliche Beeinträchtigungen keine Hürde sind. Tabus gibt es für sie dabei (fast) keine. „Es gibt leider nur sehr wenige Sexualassistenten, also Menschen, die anderen dabei helfen, ihre Lust ausleben zu können“, sagt sie. Mitarbeitende zu sensibilisieren, nach solchen Hilfen zu suchen und offen dafür zu sein, ist eine wichtige Aufgabe des Fachdienstes. „Nur, wer die Möglichkeiten kennt und ohne Tabus darüber nachdenkt, kann zu einer guten Lösung kommen“, ist sie überzeugt.
Dazu gehört es für Sandra Petermann auch, Fehler zuzulassen. In der Behindertenhilfe habe man lange Zeit in einer überfürsorglichen Blase gelebt. „Fachkräfte meinen oft zu wissen, was gut für ihre Klient*innen ist. Sie möchten sie vor schlechten Erfahrungen, Liebeskummer oder Enttäuschungen schützen. Aber die gehören zum Leben dazu. All das von jemandem fernzuhalten, schränkt ihn ein und beschneidet seine Persönlichkeitsrechte.“
Natürlich gibt es dabei auch Grenzen. Wer über seine Sexualität und seine Rechte informiert ist, kann die aber sehr viel besser wahren – oder Verletzungen benennen. Die Aufklärung in diese Richtung beginnt schon im Kindergartenalter. „Wichtig ist für den Anfang, die passenden Begriffe zu verwenden“, sagt Sandra Petermann. Schatzkistchen für die Vulva oder Nudel für den Penis seien wenig zielführend. „Gerade für den Gewaltschutz ist es wichtig, die Sexualorgane benennen zu können. Nur so lassen sich Übergriffe schneller entdecken und aufklären.“
Sandra Petermann ist es wichtig, alle Mitarbeitenden zu unterstützen: „Ich möchte die, die sich schon mit dem Thema beschäftigt haben, motivieren, dranzubleiben und sich den Herausforderungen zu stellen. Und ich möchte genau diejenigen unterstützen, die sich zaghaft auf den Weg machen wollen. Let´s talk about sex!“