„Leon, was hast Du da am Hals?“ Es ist 8.45 Uhr an einem Dienstagmorgen, als die Erzieherin Simona Nasse einen roten Striemen am Hals des sechsjährigen Jungen entdeckt. „Hab‘ ich von Sascha“, antwortet er. Die Erzieherin ruft den anderen Jungen dazu. „Er hat mich gereizt“, erklärt er und fügt schnell hinzu: „Ich hab‘ ihm aber schon eine Entschuldigung gegeben.“ Leon hängt sein Bild im Gefühlsaquarium trotzdem erstmal an den „muffeligen Fisch“. Die Kinder können auf diese Weise ausdrücken, wie es ihnen geht. Sind sie fröhlich, traurig oder eben muffelig?
Leon und Sascha besuchen den GPS-Kindergarten Sonnensegler in Upjever. Ihre Gruppe ist die „Löwenhöhle“ – eine von zwei Gruppen für Kinder mit herausforderndem Sozialverhalten (HSV) in der Einrichtung des Heilpädagogischen Zentrums Friesland Nord. Die Situation am diesem Morgen konnten die beiden am Ende friedlich lösen. Das wäre vermutlich früher anders gewesen.
„In dieser Gruppe sind im Moment ausschließlich Kinder, die in ihren alten Regelkindergärten nicht mehr tragbar waren. Sie haben um sich geschlagen, ihrer Erzieher*innen beleidigt und waren total flippig“, erklärt Simona Nasse. Sie leitet die „Löwenhöhle“ seit 13 Jahren. Für „ihre“ Kinder ist in einer großen Regelgruppe einfach alles zu viel. Zu viele Kinder, zu viel Lärm, zu viele Reize.
„Hier können sie sich viel besser zurückziehen“, erklärt die Erzieherin. Und: Sie haben alle das gleiche Problem und lernen voneinander. Um in einer HSV-Gruppe aufgenommen zu werden, müssen die Kinder mindestens vier Jahre alt und kognitiv normal entwickelt sein. Zwei Gruppenleitungen, ein*e FSJler*in oder eine Unterstützungskraft sind in der „Löwenhöhle“ für sechs Kinder da.
Die Fenster des Gruppenraums sind schön geschmückt. Selbst gebastelte Vögel sitzen auf Zweigen, Blumen sind an die Scheiben gemalt. Doch das Glas ist zerkratzt. „Das ist nicht ohne Grund so“, sagt Simona Nasse. Daran hat sich ein Kind abreagiert – mit einem Stein. Andere haben in ihrer Wut auch schon mal Tische und Stühle durch den Gruppenraum geworfen oder in den Nebenraum gepinkelt. „Ich atme dann tief durch und lasse sie das selbst wieder wegmachen“, erzählt die Erzieherin, wie sie mit solchen Extremsituationen umgeht.
Leon, Sascha und die anderen kleinen Löwen sitzen inzwischen im Morgenkreis und sprechen über den Tag. Mit Hilfe von Bildern pinnen sie alle Aktivitäten in der richtigen Reihenfolge an die Wand, die heute anstehen. „Das gibt ihnen eine Struktur, an der sie sich entlanghangeln können. Das ist es, was ihnen allen fehlt“, erklärt die Erzieherin.
Die Kinder in der HSV-Gruppe kommen aus dem gesamten Landkreis Friesland. Im Unterschied zu einem Regelkindergarten wird das pädagogische Augenmerk in der HSV-Gruppe nicht allein auf sie gelegt, sondern auch auf ihre Eltern. Regelmäßige Elterngespräche und auch Video-Home-Training gehören zum Konzept. Die Kinder werden in verschiedenen Situationen mit der Kamera begleitet und das Gesehene wird mit den Eltern besprochen.
Der Ursprung für ein herausforderndes Sozialverhalten liege meistens zu Hause, sagt Simona Nasse. Häufig sei der Grund dafür die mangelnde Erziehungsfähigkeit der Eltern. „Psychische Erkrankungen nehmen zu. Dann fehlt einfach die Energie für die Erziehung eines Kindes“, nennt die Erzieherin und Traumpädagogin einen möglichen Grund. Hinzu komme, dass sich Familiensysteme verändert hätten. Die klassische Familie ist nicht mehr die Regel und häufig fehlt es an Unterstützung. Auch der gestiegene und altersmäßig nicht angemessene Medienkonsum vieler Kinder spiele eine negative Rolle bei deren Entwicklung.
Die Kinder planschen inzwischen auf ihrer Gruppenterrasse in einem kleinen Wasserbecken. Es ist heiß und sie können sich austoben und abkühlen. Immer mal wieder scheint die Situation zu kippen. Einer reizt seine Grenzen aus, ein anderer wird sauer. Doch es eskaliert nicht. Heute geht alles gut.
Simona Nasse und ihre Unterstützungskraft Mika Buchmann haben die Kinder im Auge. Sie merken schneller als Außenstehende, wenn sich die Stimmung ändert und greifen früh ein. Der Blick auf die Kinder mit herausforderndem Sozialverhalten habe sich mit den Jahren verändert, sagt die Erzieherin. „Früher wurden sie in den Regelkitas einfach mit durchgezogen.“ Das sei inzwischen gar nicht mehr möglich. Vor zwei Jahren wurde eine zweite HSV-Gruppe bei den Sonnenseglern eingerichtet, da der Bedarf deutlich gestiegen ist.
„Eltern neigen zum Teil dazu, ihren Kindern keine Grenzen zu setzen. Es gibt keine Regeln. Sie sollen aus ihren eigenen Fehlern lernen. Doch dieser Erziehungsstil bringt jede Menge Probleme mit sich“, sagt die Pädagogin. Ohne die Eltern mit einzubeziehen, würde die Arbeit in der Löwenhöhle also vermutlich ins Leere laufen. Denn: Die Rahmenbedingungen für die Kinder müssen sich ändern, damit sie ihr Verhalten ändern können.
Simona Nasse selbst macht den Kindern ganz klare Ansagen: „Meine Kolleginnen sagen, ich sei streng. Aber genau das brauchen die Kinder. Ich bin ganz klar und ehrlich mit ihnen. Das mag manchmal hart klingen, aber sie kommen trotzdem zu mir und sagen, dass sie mich lieb haben – und ich hab sie auch lieb.“ Ehrlichkeit und klare Strukturen seien das Wichtigste für die Kinder. Das gibt ihnen Halt. „Sonst können sie sich nicht entwickeln“, ist Simona Nasse überzeugt.
Die kleinen Löwen sitzen jetzt im Abschlusskreis. Nun wird Bilanz gezogen. Wie ist der Tag gelaufen? Sie können jeden Tag bis zu acht Murmeln sammeln, zum Beispiel für gutes Benehmen bei den Mahlzeiten oder im Morgenkreis. Wer vier Murmeln hat, bekommt einen lachenden Smiley. Drei Smileys brauchen die Kinder am Ende der Woche – dann dürfen sie in die Schatzkiste von Simona Nasse greifen.
Heute bekommen alle Kinder nur drei Murmeln, also keinen lachenden Smiley. Aber morgen haben alle eine neue Chance.
*Namen der Kinder sind zu seinem Schutz geändert.