Der Abstand ist bewusst groß gewählt: Im Gespräch sitzt Linda am anderen Ende des Raumes, knetet unter dem Tisch unentwegt ihren kleinen Stressball. Während sie erzählt, wandert ihr Blick immer wieder zum Timer. 15 Minuten sind eingestellt. 15 Minuten purer Stress. Denn was für Außenstehende wie ein gutes Gespräch wirkt, ist für Linda eine unvorstellbare Anstrengung. Die 31-Jährige ist Autistin, kann soziale Interaktionen und Reize von außen nur schwer aushalten. Doch sie hält durch – weil sie über viele Jahre gelernt hat, sich anzupassen.
Linda war noch ein Kind, als der Autismus bei ihr diagnostiziert wurde. „Ich habe immer alles gleich gemacht“, erzählt sie. Schon damals nahm sie alle Details ihrer Umgebung wahr, konnte nichts ausblenden. Mit anderen Kindern mochte sie nicht spielen, verstand nicht, wie sie mit ihnen umgehen sollte, war am liebsten allein. Was für sie ein großer Leidensdruck war, wurde von ihrem Umfeld allerdings nicht anerkannt. „Zuhause wurde das immer abgetan“, sagt sie. Ihren Kummer schluckte sie herunter, versuchte sich anzupassen. Erst jetzt weiß sie, was die fehlende Akzeptanz mit ihr gemacht hat: „Ich habe mich gefühlt, als ob ich nichts wert bin.“
Erst im Autismus-Therapie-Zentrum fand sie zu sich, erkannte, was früher passiert war und lernte, sich so anzunehmen, wie sie ist. Bis die Gesellschaft dazu bereit ist, ist es allerdings noch ein langer Weg, sagt Linda: „Ich bekomme immer wieder gesagt, ich könne kein Autist sein, weil man es mir nicht ansehe.“ Es fehle die Akzeptanz und auch die Bereitschaft, etwas zu verändern. So sind für Linda die Reize beispielweise im Supermarkt zu viel: das grelle Licht, das Radio, das leise dudelt. Sie wünscht sich mehr Freiraum, mehr Orte mit gedämmten Licht und weniger Hintergrundgeräuschen. Denn während ein Mensch ohne Autismus das meiste einfach ausblenden kann, nimmt sie jeden einzelnen Reiz war – und kann das auf Dauer nicht ertragen.
Fehlende Akzeptanz sieht Linda aber nicht nur an öffentlichen Plätzen, sondern auch im Schulsystem. Ihr Sohn ist elf Jahre alt und aktuell in der Autismus-Diagnostik bei einem Kinder- und Jugendpsychiater. „Es ist traurig, dass die Lehrer oft nicht wissen, wie sie mit ihm umgehen sollen“, sagt Linda. Wer nicht die gängigsten Merkmale zeige, werde angezweifelt. „Du kannst Blickkontakt halten, Du kannst kein Autist sein – sowas haben wir beide schon oft gehört.“
Aber wie soll Autismus in der Gesellschaft besser anerkannt werden, wenn es selbst die Krankenkassen nicht tun? Linda hilft – wie vielen Betroffenen – beispielsweise eine Gewichtsdecke. Damit kann sie ihren Körper spüren, zur Ruhe kommen. Die Kosten in Höhe von 280 Euro übernimmt die Krankenkasse nicht, erkennt das Hilfsmittel nicht an. Gleiches gilt für einen Gehörschutz, um akustische Reize auszublenden. Das Schlimmste: „Autismus ist keine Krankheit, es ist eine neurologische Veränderung im Gehirn. Das geht nicht weg. Trotzdem muss ich mich alle zwei Jahre wieder neu diagnostizieren lassen.“
Traurig macht Linda daran vor allem eines: Dass sich in den vergangenen 30 Jahren nichts verbessert hat. Das, was sie in ihrer Kindheit erleben musste, erlebt ihr Sohn heute. Mit einem Unterschied: Seine Mutter kennt seinen Leidensdruck und kann ihm genau das geben, was er braucht.