Es war ein Nachmittag im März 2022 als Jonas* vor der Tür der Wohngruppe stand. Ein Rucksack auf dem Rücken und eine Flasche Apfelschorle in der Hand, mehr hatte er aus seinem alten Leben nicht dabei. Der Vierjährige war in seiner Familie vernachlässigt worden, sollte im Windrad Bohnenburg der GPS Wilhelmshaven ein neues Zuhause auf Zeit finden.
Etwas über ein Jahr später tobt Jonas durch den Garten eines Einfamilienhauses. Am Tisch sitzt Anna Müller*, schaut ihm mit einem Lächeln dabei zu. Um ihn herum springt der Familienhund, Jonas lacht, wirkt glücklich. Vor gut einer Woche haben Anna Müller und ihr Mann den Jungen aus der Wohngruppe zu sich geholt. „Da sind wir quasi über Nacht zu Eltern geworden“, erzählt sie und lacht.
Geplant war das nicht. Eigentlich wollte sie nur ein Ehrenamt im Windrad übernehmen, Kindern an ein paar Nachmittagen etwas Zeit schenken. Die Fachkräfte vor Ort wählten zwei Jungen aus, die kaum Kontakt zu ihren eigenen Familien haben. Jonas war einer davon. Seit seinem Einzug war seine Mutter ein einziges Mal zu Besuch. Nähe und Zuneigung kannte der Junge nicht. Mit Anna Müller stimmte die Chemie, mit jedem Besuch wurde die Bindung enger, das Vertrauen und die Liebe größer. „Als ich dann gehört habe, dass für ihn nach einer Pflegefamilie gesucht werden soll, war für mich sofort klar, dass ich ihn nicht gehen lassen möchte“, erzählt sie.
Gemeinsam mit ihrem Mann beantragte sie die Pflegschaft, besuchte die nötigen Kurse, merkte dabei, wie viel sie an Beziehungsarbeit mit Jonas bereits geschafft hatte. Dann kam der Anruf vom Jugendamt: „Liebe Frau Müller, sie sind nun eine Pflegemama.“ Tränen stiegen ihr in die Augen, das Herz hüpfte. „Ich war so glücklich, dass Jonas jetzt zu unserer Familie gehört.“
Was beinah wie das Happy End eines Hollywoodfilms klingt, ist für die Müllers allerdings erst der Anfang einer langen, anstrengenden Reise. Jonas hat ein schweres Paket zu tragen. Die ersten vier Jahre seines Lebens haben Spuren hinterlassen. Obwohl er sich in dem Jahr in der Wohngruppe toll entwickelt hat, braucht er in vielen Bereichen noch sehr viel Förderung. Sowohl seine emotionale und soziale als auch seine sprachliche Entwicklung sind längst nicht auf dem Stand eines Fünfjährigen. Wie tief die Narben auf der Psyche des Jungen sind, wird sich zeigen müssen. Für Anna Müller ist all das manchmal nur schwer zu ertragen: „Ich habe einen starken Mutter- und Beschützerinstinkt entwickelt. Es macht mich unheimlich wütend und traurig, daran zu denken, was Jonas erleben musste.“
Wut ist es auch, die Jonas oft beherrscht. Er muss noch lernen, seine Gefühle auszudrücken, sie zuzulassen, nicht an ihnen zu zerbrechen. Die Folge sind regelmäßige Wutanfälle, in denen er jeden von sich wegstößt, kaum zu beruhigen ist. Anna Müller kann dann nur da sein, auffangen, versuchen zu beruhigen. „Das ist hart und ich komme an meine Grenzen“, erzählt sie. Doch nicht nur Jonas bekommt professionelle Hilfe, auch sie.
Neben der Begleitung durch das Jugendamt und den Austausch mit anderen Pflegefamilien ist es Maik Hergenröther, der Anna Müller vor allem während ihres Ehrenamts zur Seite stand. Er leitet die GPS-Wohngruppe, in der der Junge gelebt hat, und ist ein enger Freund der Familie. „Was Jonas hier passiert ist, ist ein absoluter Jackpot“, sagt er. Im Windrad sei der Vierjährige schon aufgeblüht, „aber wir können ihm natürlich nicht das bieten, was eine Familie leisten kann.“ Fußballtraining, Schwimmkurs, viele Treffen mit neuen Freunden – all das lernt Jonas jetzt kennen. Und er genießt es in vollen Zügen.
Auch für Maik Hergenröther ist diese Situation etwas Besonderes: Wenn ein Kind die Wohngruppe verlässt, gibt es einen Cut, die Fachkräfte sind dann eigentlich kein Teil des Lebens mehr. Bei Jonas ist das anders. „Ich kann seinen Weg als Freund der Familie weiterbegleiten, das ist für mich wunderschön“, sagt er. Denn bei aller professioneller Distanz: „Wenn da so ein kleiner Fratz vor Dir steht, verlierst Du natürlich Dein Herz.“
Ihr Herz hat Anna Müller schon längst an Jonas verloren – genau wie sämtliche Mitglieder ihrer Familie. Neben den Pflegeeltern gehören jetzt Omas und Opas fest zu seinem Leben. Und obwohl er noch gar nicht lange da ist, haben sie ihm schon jetzt deutlich gemacht, dass er fest dazu gehört und sich das niemals ändern wird. „Diese Verlässlichkeit kannte er bisher nicht“, sagt Anna Müller. Kontakt zur leiblichen Familie gibt es aktuell nicht, das wird sich in Zukunft aber ändern. „Wir müssen noch abstimmen, wie oft es Besuche geben wird und was gut für Jonas ist.“
Seine leibliche Mutter nennt er inzwischen „alte Mama“, Anna Müller ist die „neue Mama“. Eine Bezeichnung, die noch ungewohnt ist und wachsen muss. Eins aber steht fest: Jonas hat hier ein Zuhause und eine Familie gefunden, mit seiner charmanten Art längst alle um den Finger gewickelt. Um ihm das noch einmal ganz deutlich zu machen, haben die Müllers für ihn eine Willkommensfeier organisiert. Ohne Geschenke, da Materielles die einzige Zuwendung war, die er aus seiner Kernfamilie kannte. Dafür mit ganz viel Liebe und der Gewissheit, dass er willkommen ist – so, wie er ist und für immer.
*Namen von Pflegemutter und Kind sind zu seinem Schutz geändert.