Mit welchen Symptomen kommen die Klient*innen ins ATZ?
Schon im Kindesalter erkennen Menschen, welchen sozialen Regeln sie folgen müssen, um der Norm zu entsprechen. Als soziale Wesen sehnen sie sich nach zwischenmenschlichen Beziehungen und Nähe. Sie können Freundschaften knüpfen, in Gesprächen angemessen reagieren und Mitgefühl zeigen. Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung können das nicht oder nur unzureichend. Ihre soziale Interaktion ist gestört, sie wissen nicht, wie sie sich in Gesprächen angemessen verhalten, können Emotionen bei anderen Menschen nicht lesen, keinen Blickkontakt halten. Das zeigt sich meist schon im Kindesalter: die Mädchen und Jungen sind am liebsten allein, haben kein Interesse an Freundschaften, verstehen Fantasiespiele nicht. Oft gelten sie als ungezogen oder unhöflich, weil sie nicht erkennen, welches Verhalten in einer Situation das sozial anerkannte wäre.
Bei Erwachsenen sind es hingegen oft alltägliche Situationen wie das Telefonieren, die große Schwierigkeiten bereiten: Die Menschen können ihr Gegenüber nicht sehen, haben keinen Anhaltspunkt, was sie wann sagen können oder wann sie aufhören sollten, zu reden. Immer öfter kommen auch Menschen mit einer sehr späten Diagnose in ATZ. Sie sind meist wegen etwas anderem in Behandlung, der Autismus ist ein Zufallsbefund. Und doch erklärt er nach all den Jahren so vieles, was im Leben bisher schiefgelaufen ist.
Zentrales Symptom ist zudem das Festhalten an genauen Abläufen. Spielzeuge werden nach Größe sortiert, im Alltag muss alles einem gewissen Muster folgen. Reize aus der Umgebung werden ungefiltert wahrgenommen. Ob Lichter, Geräusche oder Gespräche: In der Regel filtert das Gehirn all das heraus, was für den Moment unwichtig erscheint. Autist*innen können das nicht. Gewisse Geräusche oder Lautstärken tun ihnen weh. Sie nehmen alles wahr, verarbeiten alles – und brechen unter der Last zusammen.
Das Spektrum der Entwicklungsstörung ist dabei groß. Manche Betroffene führen ein Leben, das sich kaum von dem anderer Menschen unterscheidet. Andere können sich kaum verständigen und sind ihr Leben lang auf Hilfe und Unterstützung angewiesen.
Was passiert in der ersten Therapiestunde?
Bei Kindern berichten in der Regel die Eltern über Schwierigkeiten im Alltag, in der Schule oder im sozialen Umfeld. Bei einer gemeinsamen Zielplanung wird festgehalten, was die Kinder in der Therapie erreichen sollen.
Bei Erwachsenen ist diese Zielplanung meist schon vorher klar: Hier geht es darum, was im Alltag bewältigt werden soll. Die Klient*innen im ATZ sind in der Regel relativ selbstständig, leben alleine oder mit ihren Familien. In der Therapie bekommen sie Hilfe, Situationen zu reflektieren und zu verstehen, sich selbst anzunehmen und soziale Regeln einzuhalten. Viele Klient*innen, die als Erwachsene ins ATZ kommen, haben mindestens eine weitere Diagnose: Angststörungen, Panikattacken oder Süchte, die teils aus dem bis dato unerkannten Autismus resultieren.
Wie sieht die Arbeit mit Kindern aus?
Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung werden von der Gesellschaft oft als unerzogen oder unhöflich wahrgenommen. Sie wissen nicht, wie sie mit anderen spielen sollen, reagieren unangemessen. Weil sie soziale Regel nicht erkennen, testen sie ihre Grenzen in alle Richtungen aus. Sie stören im Unterricht, schubsen ihre Mitspieler*innen. Sind sie zu vielen Reizen ausgesetzt, geraten sie in einen Overload, der sich durch schreien oder toben entladen kann. Manchmal schalten sie auch ab, sind nicht mehr ansprechbar. Um Situationen wie diese zu vermeiden oder zumindest gut bewältigen zu können, stehen Therapeut*innen, Eltern und Lehrkräfte an den Schulen der Kinder in einem engen Austausch.
Gemeinsam mit den Kindern werden Wege erarbeitet, den (Schul-)Alltag für sie einfacher zu machen. Zum Teil finden die Therapien in der Schule statt, eine Mitarbeiterin des ATZ geht als Schulbegleitung mit in die Klasse. Dann geht es darum, wie das Kind ins Arbeiten kommt, wie es die Pausen verbringen oder mit anderen in Kontakt kommen kann. Dieser Part des Schulalltags ist für die meisten Kinder aus dem Spektrum der schwierigste: Während der Unterricht einem Plan folgt, gibt es für die Pausen keinen. Zum Freispiel haben die Kinder aber keinen Zugang. Oft stehen sie teilnahmslos am Rand oder geraten in Konflikte mit den Mitschüler*innen.
Darüber hinaus wird der außerschulische Alltag unter die Lupe genommen: Was brauchen die Kinder für Hilfsmittel? Das kann ein Tagesplan sein, der Struktur gibt, das mindern von Reizen und vor allem die Gewissheit, von ihrem Umfeld angenommen und unterstützt zu werden – genau so, wie sie sind.
Wie läuft eine Therapiestunde ab?
Generell gilt: Die Klient*innen wissen immer, was auf sie zukommt. Wer ist dabei, was wird besprochen, wann treffen wir uns und wie lange wird es dauern? Abweichungen vom Plan sind oft unüberwindbare Hürden – was auch schon mal eine Sitzung verhindert, wenn der gewohnte Weg dorthin beispielsweise von einer Baustelle versperrt wird. Einen anderen Weg zu suchen und vom Gewohnten abzuweichen, ist für viele Betroffene nicht möglich. Sie drehen in solch einem Fall um, fahren zurück nach Hause und müssen das Erlebte erst einmal verarbeiten.
Solche Erlebnisse werden in der Therapie reflektiert. Es geht aber auch um Alltägliches: Was lief gut, was lief schlecht und wie kann solch eine Situation künftig vielleicht anders gelöst werden? Trainiert wird auch die Selbstständigkeit. So geht es beispielsweise zum Bäcker, um etwas zu kaufen – die Hürde: der Kontakt mit den Verkäufer*innen hinterm Tresen.
Von den Räumen des ATZ in der Marktstraße geht es manchmal auch in die Nordseepassage. Für Menschen aus dem Spektrum eine große Herausforderung: die Lichter, die Geräusche, die vielen Menschen – zu viele Reize, die schwer auszuhalten sind. Trainiert wird ein Umgang, der für den Betroffenen machbar ist: Wo laufe ich, damit ich nicht so vielen Menschen begegne? Wie kann ich mich vor grellen Lichtern schützen oder wo gibt es kleine Orte, in denen es ruhiger ist?
Die Therapie ist immer individuell. Während solch ein Ausflug für den einen zu schaffen ist, kann ein anderer vielleicht das Haus gar nicht verlassen und benötigt eine Therapiestunde in den eigenen vier Wänden. Der nächste möchte das Busfahren üben, braucht Hilfe für den Fall, dass der Fahrplan nicht eingehalten wird. Manchmal werden auch Vorstellungsgespräche trainiert – denn viele Klient*innen leben trotz des Autismus ein nahezu normales Leben mit Beruf und Familie.
Wie lange dauert es bis zur Diagnose?
Viel zu lange. Bis ein Verdacht bestätigt wird, haben die Betroffenen meist schon einen langen Leidensweg hinter sich. Zwei bis drei Jahre dauert es in der Regel bis zur Diagnose. In dieser Zeit bekommen die Menschen noch keine Hilfe, das ATZ darf nur dann therapieren, wenn die Diagnose gesichert und anerkannt ist. Grund für die lange Zeit ist häufig ein Mangel an Fachärzt*innen und das damit verbundene Warten auf Termine.
Wie muss sich die Gesellschaft ändern, um für Autist*innen inklusiver zu werden?
Für Menschen aus dem Spektrum ist es wichtig, Dinge planen und vorhersehen zu können. Wage Zeitangaben, unsichere Zusagen oder unklare Absprachen bereiten ihnen große Probleme. In der Schule könnten einfache Mittel helfen: Stehen die Aufgaben an der Tafel, können sie der Reihe nach bearbeitet werden. Mit Hilfe eines Timers können die Schüler*innen genau sehen, wie viel Zeit für eine Aufgabe oder für die Schulstunde bleibt. Diese Planbarkeit hilft nicht nur autistischen Kindern, sie kommt aus den Klassenkameraden entgegen.
Auch im Alltag gibt es zahlreiche Barrieren. In Supermärkten überreizen grelles Licht und Hintergrundmusik die Menschen. Versuchsweise wurden in vereinzelten Geschäften bereits Einkaufszeiten für reizempfindliche Menschen geschaffen: ohne Musik und mit gedimmtem Licht.
Wichtig ist vor allen die Aufklärung. Das fängt bereits in der Schule an, wenn Lehrkräfte Diagnosen oder Verdachtsfälle nicht ernst nehmen, weil nicht die gängigsten Symptome gezeigt werden. Dabei sind nicht alle Menschen aus dem Spektrum gleich, Autismus äußert sich in vielfältigen Formen. Was Betroffene brauchen, ist mehr Verständnis auch für abweichendes Verhalten.
Das Team des ATZ
Ramona Perl leitet das ATZ seit März 2022. Sie ist Heilerziehungspflegerin.
Katja Luedecke ist Heilpädagogin und ist die Dienstälteste Therapeutin: sie ist seit 2001 dabei.
Claudia Colberg ist Erzieherin und seit Dezember 2021 dabei.
Annika Post-Olker ist Heilerziehungspflegerin und seit Juli 2022 im ATZ.